Sonntag, 9. März 2014

Ohnmächtig



20.02.2014

Ich möchte in diesem Bericht eine Erfahrung schildern, die mich sehr bewegt hat, über die ich viel nachgedacht habe und die ich nicht so schnell vergessen werde.

Heute war ein echt harter Tag für mich. Nicht aus Gründen der Anstrengung, sondern psychisch. Ich muss sagen, dieser Tag hat mich wirklich an meine Grenzen gebracht und vor allem beschäftigt es mich die ganze Zeit und mir gehe diese Bilder nicht aus dem Kopf. Das Thema Schlagen ist ja in Afrika allgegenwärtig und sehr präsent, vor allem in der Schule und Familie. Gerade im Zwischenseminar haben viele Freiwilligen von ihren Erfahrungen mit Schlagen von Schülern berichtet. Und ich war ehrlich froh, dass wir davon im Health Centre kaum etwas mitbekommen. Ich bewundere sehr alle die, die sich täglich dieser Herausforderung stellen und versuchen damit umzugehen. Im Health Centre wird sehr oft „Basi Basi“ gerufen, was so viel heißt wie „Es ist gut“ oder „Hör auf“. Trotzdem läuft es hier auch noch mal ganz anders ab als in Deutschland. Kinder müssen oft wie kleine Erwachsene sein. Ihnen wird kaum erklärt, was wer auch immer jetzt mit ihnen macht, ob es nun um das Blut abnehmen oder Spritze verabreichen geht. Und dann wundern sich alle, wieso das Kind wie am Spieß brüllt. Heute bin ich nun doch mit dem Thema Schlagen und den hiesigen Erziehungsmaßnahmen konfrontiert worden. Ich habe in der hoch modernen Zahnarztpraxis gearbeitet und sozusagen assistiert. Es war nicht viel los. Den meisten Patienten wurde nur ein Zahn gezogen und das ging meistens ziemlich fix. Außerdem herrschte so ein fieses Regenwetter, so dass sicher keiner Lust hatte aus dem Haus zu gehen. Der circa fünfte Patient an diesem Vormittag war ein 5 Jahre alter Junge namens Wisman. Ich dachte mir schon gleich am Anfang, oh ein fünfjähriger Junge und musste an die Situation denken, die Johanna schon erlebt hatte, mit dem doch rabiaten Ziehen eines Zahnes bei einem vierjährigen Jungen. Wisman legte sich also widerwillig auf den großen Zahnarztstuhl und schaute mich mit großen Augen an. Sr. Marselina musste ihn erst mal überzeugen, dass sie nur seine Zähne anschauen möchte. Er lies sich überreden und öffnete tapfer seinen Mund. Ein Zahn war mit Karies befallen. Eine Füllung wäre möglich gewesen, aber der Vater oder Großvater, weiß ich nicht genau, wollte das nicht. Hoffentlich war es nur ein Milchzahn. Dann präparierte Sr. Marselina die Betäubungsspritze. Doch jeder von euch kennt diese riesigen Zahnarztspritzen. Kein vertrauenswürdiger Anblick. Ich habe aber mittlerweile herausgefunden, dass wir auch Kinder taugliche kleine Spritzen haben. Als diese der Junge sah, begann er fürchterlich zu weinen und machte seinen Mund nicht mehr auf. Der Mann, der mit ihm gekommen war, redete wie wild auf ihn ein und versuchte mit aller Kraft den Mund aufzubiegen. Aber der Junge blieb standhaft. Daraufhin versuchte Sr. Eutropia, eine junge Schwester, die angelernt wird, ihr Glück mit ihrer beruhigenden Stimme und ganz lieb. Sie versuchte ihm zu erklären, was die Spritze bringen sollte, dass er keine Angst haben müsste. Aber wie sollte sich der Junge auch beruhigen, wenn der Mann permanent weiter auf ihn ein brüllt und die ganze Zeit meint, er würde ihn gleich alleine lassen und gehen. Der Junge stand auf und wollte ihm hinter her. Doch das Einzige, was der Mann machte, war dem Jungen ein paar runter zu hauen und zu sagen, du gehst da jetzt wieder rein. Irgendwann machte der Junge den Mund wieder ein kleines Stück auf. Die Schwester pikste ein mal kurz rein und schon fing der Junge an um sich zu treten und zu weinen. So holte der Mann einen zweiten Mann, eventuell Vater oder großer, erwachsener Bruder. Unser Watchman wurde gerufen, um mit festzuhalten und Sr. Catherine, die andere Zahnärztin, die gut mit Kindern umgehen kann, aber an dem Tag eigentlich frei hatte. Sr. Catherine versuchte den Jungen etwas zu beruhigen, aber der hatte schon zu gemacht und hörte gar nicht mehr hin. Also wurde er auf den Stuhl gesetzt und von allen festgehalten. Natürlich machte der Junge den Mund nicht brav auf, als er erneut die Spritze sah. Immer wieder kam die Drohung, ich hole gleich den Stock oder zu Hause wirst du geschlagen. Doch es half nichts. Also ging der jüngere Mann nach draußen und brach erst einen kleinen Ast und später einen größeren von einem Busch ab. Ich konnte es echt nicht fassen. Er wurde ins Bein gekniffen, damit er den Mund aufmacht. Ihm wurde die Nase zu gehalten, damit er den Mund aufmacht. Und es wurde mit dem Ast auf seine Beine geschlagen und sogar an die Wange ins Gesicht. Alle hielten ihn die ganze Zeit auf dem Stuhl fest. Der Junge schluchzte nur noch und schaute starr in die Gegend. Irgendwie wurde die Spritze in den  Mund gequetscht, und irgendwann war auch der Zahn raus. Ich glaube alles insgesamt dauerte fast zwei Stunden. Als der Zahn dann endlich raus war, richtete sich der Kleine gerade auf dem Stuhl auf und bekam noch mal ein paar Hiebe auf den Po und den Rücken. Draußen sollte er sich auf die Bank setzen und sich beruhigen. Keiner nahm ihn den Arm. Niemand hatte ein paar tröstende Worte. Alles war doch normal. Wie hätten sie es auch anders machen sollen, so die Frage.
Und die Schwester hatte noch den guten Tipp, diesen so unwilligen Jungen besser auf ein Internat zu schicken, da würde er schon Manieren lernen und vor allem Respekt und Disziplin.
Ich habe mit dem Ganzen immer noch nicht abgeschlossen. Zu gern hätte ich den Jungen in den Arm genommen. Doch hier ist es so tief verankert. Der Mann schlägt seine Frau, die Eltern schlagen ihre Kinder, die Kinder schlagen die Tiere und später selber ihre Kinder.
Wenn wir hier erzählen, dass es verboten ist uns in Deutschland in der Schule zu schlagen, dann fragen sie uns, wieso wir dann gelernt haben. Sie können sich nicht vorstellen, dass unsere Eltern uns nicht schlagen. Vergessen wir auch nicht, was unsere Eltern gesagt haben, wenn wir nicht geschlagen werden? Es kann sich einfach keiner vorstellen. Eine Freiwillige hat erzählt, dass eine Schülerin ihrer Secondary School selber gesagt hat, ich habe diesen Monat nicht so gute Noten geschrieben, weil ich selten geschlagen wurde.
Ich habe mich einfach ohnmächtig gefühlt. Ich hatte nicht das Recht einzugreifen. Aber ich hatte das Recht zu sagen, ich möchte nicht mit festhalten, ich möchte den Raum verlassen.

Für alle von euch, die es interessiert, hier ist die Blogadresse von Nele. Sie arbeitet in einer Primary School in Himo. So könnt ihr auch in ihre Erfahrungen ein mal reinschnuppern!
www.nele-in-afrika.auslandsblog.de





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